In einer Artikelserie zum Thema Stillen hat die Fachzeitschrift Lancet die Marketingstrategien der Milchpulverindustrie kritisch in den Blick genommen. Wir stellen die einzelnen Beiträge der Serie vor.
Nur knapp die Hälfte aller Babys werden weltweit mit 6 Monaten noch entsprechend der WHO-Empfehlung ausschließlich gestillt. Gleichzeitig steigt der Pro-Kopf-Verbrauch von Milchpulver als Säuglingsnahrung stetig. Aus diesem Anlass beleuchtete die renommierte medizinische Fachzeitschrift Lancet 2023 in einer Serie zum Stillen die Marketingstrategien der Milchpulverindustrie gegenüber Familien, Politik und Gesundheitswesen. Es ist die zweite Lancet-Serie zum Stillen. Die erste erschien 2016 und befasste sich mit den gesundheitlichen und ökonomischen Effekten des Stillens auf Kinder, Mütter, Wirtschaft und Gesellschaft.
Teil 2: Wie Milchpulverfirmen versuchen, auf Eltern, Fachkräfte und politische Entscheidungsträger Einfluss zu nehmen
Im zweiten Beitrag beschreiben Nigel Rollins und Mitautor*innen, mit welchen Marketingstrategien Milchpulverfirmen Eltern, Gesundheitsfachkräfte und Politiker*innen zu beeinflussen versuchen. Es besteht wissenschaftlicher Konsens über den Einfluss von Marketing auf das Gesundheitsverhalten. Studien belegen diesen Einfluss auch für Milchpulverprodukte [1-4].
Miteinander vergleichbare Daten zu Marketingausgaben für Milchpulver sind selten frei verfügbar. Eine Datenauswertung von Rollins et al. aus vier Ländern zeigt zwischen 2010 und 2020 einen Anstieg des Anteils der Marketingausgaben am Verkaufsumsatz von 164 %: Die Marketingausgaben stiegen weit überproportional im Vergleich zu den Erlösen durch verkauftes Milchpulver.
Um positive Rahmenbedingungen für den Verkauf ihrer Ware zu schaffen, versuchen Firmen, Einstellungen und wahrgenommene Normen von Eltern, Gesundheitspersonal und politischen Entscheidungsträgern zu beeinflussen.
Die Strategien gegenüber Eltern verfolgen das Ziel,
- eine positive Identifikation mit der Marke zu schaffen,
- Verständnis mit ihrer individuellen Situation zu signalisieren,
- Empathie für ihre persönlichen Gefühle und Bedürfnisse zu zeigen.
Um das Vertrauen und die Kontaktdaten bereits von Schwangeren zu gewinnen, finanzieren Firmen Babyclubs, Foren, 24-Stunden-Hotlines, Newsletter und bekannte Social Media-Influencerinnen als Sympathieträgerinnen. Indem sie über diese Informationskanäle etwa die Entscheidungsfreiheit der modernen Mütter betonen und angebliche „Mommy-Wars“ zwischen Still- und Flaschenmüttern verurteilen, positionieren sich die Marken als vertrauensvolle Instanz an der Seite der Mütter. Rollins et al. fordern ein international abgestimmtes Vorgehen, um digitales Marketing zum Schutz von jungen Familien und insbesondere vulnerablen Gruppen stärker zu regulieren.
Strategien gegenüber Gesundheitsfachkräften gehen von der Annahme aus, dass diese als Schlüsselfiguren maßgeblich den Absatz der eigenen Produkte steigern können. Hebammen, Frauenärzt*innen, Pflegefachkräfte und Kinder- und Jugendärzt*innen haben das Potenzial, das Markenvertrauen und die Kaufentscheidungen von jungen Eltern stark zu beeinflussen. Deshalb investieren Milchpulverfirmen viel Geld in
- Sponsoring von Fortbildungen, Konferenzen, Forschung und Fachgesellschaften,
- Werbung in einschlägigen Fachmagazinen und den Sozialen Medien,
- industrieeigene Forschung, bezahlte Fachartikel, Berufung anerkannter Wissenschaftler*innen in eigene Beratungsgremien oder für Fachvorträge.
Das Autor*innenteam fordert, dass sämtliche materielle Unterstützung durch diesen Industriezweig verboten und Marketingausgaben der Firmen inklusive Sponsoring und Lobbyarbeit offengelegt werden.
Strategien gegenüber politischen Entscheidungsträgern zielen in die Richtung, möglichst günstige gesetzgeberische und regulatorische Standards für die Milchpulverindustrie zu gewährleisten.
Rollins et al. empfehlen die vollständige Umsetzung des WHO-Kodex und der nachfolgenden Resolutionen, ein Verbot der Einflussnahme von Milchpulverfirmen auf nationale und internationale politische Prozesse und Gremien sowie politische Fürsprache für das Stillen auf hoher Ebene, verbunden mit mehr finanziellen Investitionen in die Stillförderung und -unterstützung.
Auch mit Blick nach Deutschland lassen sich die beschriebenen Marketingstrategien gegenüber Eltern und Gesundheitsfachkräften nachweisen. Im Rahmen der Umsetzung der 2021 von der Bundesregierung beschlossen Nationalen Strategie zur Stillförderung soll über die in Deutschland bestehenden Regelungen zur Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten stärker informiert, sensibilisiert und weiterer Regulierungsbedarf geprüft werden.