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Mann hält Neugeborenes auf dem Arm, daneben steht Teil 3
stock.adobe.com/EvaHM

In einer Artikelserie zum Thema Stillen hat die Fachzeitschrift Lancet die Marketingstrategien der Milchpulverindustrie kritisch in den Blick genommen. Wir stellen die einzelnen Beiträge der Serie vor.

Nur knapp die Hälfte aller Babys werden weltweit mit 6 Monaten noch entsprechend der WHO-Empfehlung ausschließlich gestillt. Gleichzeitig steigt der Pro-Kopf-Verbrauch von Milchpulver als Säuglingsnahrung stetig. Aus diesem Anlass beleuchtete die renommierte medizinische Fachzeitschrift Lancet 2023 in einer Serie zum Stillen die Marketingstrategien der Milchpulverindustrie gegenüber Familien, Politik und Gesundheitswesen. Es ist die zweite Lancet-Serie zum Stillen. Die erste erschien 2016 und befasste sich mit den gesundheitlichen und ökonomischen Effekten des Stillens auf Kinder, Mütter, Wirtschaft und Gesellschaft.

Teil 3: Wie wirtschaftliche, politische und soziale Strukturen weltweit das Stillen herausfordern

Im dritten Beitrag beschreiben Phillip Baker und Mitautor*innen wirtschaftliche, politische und soziale Gründe für weltweit niedrige Stillraten mithilfe der Forschungsmethoden der politischen Ökonomie. Für den Artikel wurde eine Internetrecherche mit über 80 Expert*innengesprächen kombiniert.

Zu wirtschaftlichen Strukturen zählen die Rahmenbedingungen im Markt für Milchpulverprodukte. Kennzeichnend ist hier die stetig voranschreitende Produktdiversifikation  – von nur einer Ersatznahrung für alle Säuglinge bis hin zu vier verschiedenen Produkten allein für das erste Lebensjahr plus Kleinkindmilch, Spezialnahrung und Milchprodukten für Schwangere und Stillende. Ein Effekt dieser Produktpalette ist Kreuzwerbung: Ist etwa – wie in Deutschland – Werbung für Säuglingsanfangsnahrung verboten, so bewirbt der Hersteller das nahezu identisch aussehende Folgemilchprodukt für Säuglinge ab 6 Monaten mit dem Ziel, dass sich der Werbeeffekt auch auf die Anfangsnahrung überträgt [1]. Die Autor*innen beschreiben, dass der in vielen Ländern bestehende Fokus auf kurative Medizin und Medikalisierung statt auf Primärprävention diesen Produkten ein zusätzlich förderliches Marktumfeld schafft.

Teil politischer Strukturen ist den Autor*innen zufolge verdeckte und offene Lobbyarbeit von Milchpulverfirmen. Die verdeckte Interessenvertretung finde etwa auf internationaler politischer Ebene bei der World Health Organization (WHO), der World Trade Organization (WTO) oder der Codex Alimentarius-Kommission durch den Einsatz eigener oder beauftragter Lobbyisten statt. Allein in den USA gaben Milchpulverhersteller zwischen 2007 und 2018 55 Millionen Dollar für Lobbyarbeit aus. Offene Lobbyarbeit betreiben die Firmen unter dem Stichwort „Corporate Social Responsibility“, also der Anerkennung einer gesellschaftlichen Verantwortung, etwa indem sie freiwillige Selbstverpflichtungen eingehen oder eigene Forschungsinstitute für Verbraucherforschung betreiben. In einem solchen Institut beschäftigt allein die Firma Nestlé weltweit 5.000 Personen an 30 Standorten. Diese produzieren etwa 200 Fachpublikationen pro Jahr und die dort entwickelte eLearning-Plattform erreicht ca. 300.000 Gesundheitsfachkräfte. Baker und Kolleg*innen fordern ein Ende der Akzeptanz und Toleranz für diese Einflussnahme der Milchpulverindustrie.

Zu den sozialen Strukturen gehöre die verbreitete Deutung des Stillens als kostenfrei oder als private Lebensstilentscheidung. Stillen zähle zu unbezahlter Arbeit im Bereich Haushalt und Familie, die überwiegend von Frauen geleistet werde und enormen wirtschaftlichen Wert habe, in volkswirtschaftlichen Statistiken aber nicht sichtbar werde. Müssen Frauen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts Erwerbsarbeit aufnehmen, lässt sich dies mit dem zeitaufwändigen Stillen oft schwer vereinbaren. Das Autor*innenteam benennt Instrumente der Fiskalpolitik, mit denen das Stillen gezielt gefördert werden könnte, etwa durch soziale Absicherung für Stillende, kostenfreie Kinderbetreuung oder Krankenversicherung.

In Deutschland sind die Strukturen mit dem Mutterschutzgesetz, der finanziellen Absicherung in der Elternzeit oder der gesetzlichen Krankenversicherung für Familien bereits sehr gut.

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Zu den Teilen 1-3 der Lancet-Serie

Mann hält Neugeborenes auf dem Arm, daneben steht Teil 1 30 Oct
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Marketingstrategien bei Säuglingsnahrung - Teil 1

Herausforderungen für das Stillen in einer marktorientierten Welt

Im ersten Artikel der Serie beschreiben Rafael Pérez-Escamilla und Mitautor*innen, wie Milchpulverfirmen normale Verhaltensweisen von Babys als auffällig darstellen, etwa Weinen, Unruhezustände oder kurze Schlafrhythmen.

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Mann hält Neugeborenes auf dem Arm, daneben steht Teil 2 30 Oct
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Marketingstrategien bei Säuglingsnahrung - Teil 2

Wie Milchpulverfirmen versuchen, auf Eltern, Fachkräfte und politische Entscheidungsträger Einfluss zu nehmen

Im zweiten Beitrag beschreiben Nigel Rollins und Mitautor*innen, mit welchen Marketingstrategien Milchpulverfirmen Eltern, Gesundheitsfachkräfte und Politiker*innen zu beeinflussen versuchen.

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Literatur

[1] WHO/UNICEF Information Note. Cross-promotion of infant formula and toddler milks. 2019. https://www.who.int/publications/i/item/WHO-NMH-NHD-19.27 Zugriff: 26. Juni 2023