Stillen hat eine besondere Bedeutung für das gesunde Aufwachsen von Kindern. Zahlreiche Studien beschreiben signifikante schützende Effekte des Stillens für die Gesundheit von Mutter, Kind und Familie [1-4]. Die aktuellen Stillquoten für Deutschland zeigen allerdings: Nur zwei Drittel der Mütter (68 %) stillen ihr Kind nach der Geburt ausschließlich. Nach 2 Monaten sind es noch 57 %, nach 4 Monaten 40 % und nach 6 Monaten 13 % [5].
Stillen: deutliche Unterschiede in Abhängigkeit vom Sozialstatus
Stillen weist einen starken sozialen Gradienten auf. Frauen in psychosozial und materiell belasteten Lebenslagen haben eine geringere Stillquote und eine kürzere Stilldauer. Laut KiGGS-Studie beträgt die ausschließliche Stillquote mit 4 Monaten bei Müttern mit einfacher Bildung 21 % im Vergleich zu 35 % bei Müttern mit mittlerer und 50 % bei Müttern mit hoher Bildung [6].
Diese Erkenntnisse sind nicht neu [7,8]. Die entsprechenden Ursachen sind allerdings unbekannt. Erst indem subjektive Gründe erhoben und verstanden werden, können die Erkenntnisse für eine angemessene Unterstützung von Familien in belasteten Lebenslagen genutzt werden.
Fokusgruppen zur Erfassung der Lebensrealität
Zur Ermittlung der Erfahrungen, Bedarfe und Bedürfnisse sowie Wünsche rund ums Stillen hat die Sinus Markt- und Sozialforschung GmbH im Auftrag des Netzwerks Gesund ins Leben zwei leitfadengestützte Fokusgruppen-Diskussionen mit Frauen in belasteten Lebenslagen durchgeführt (n=6 und n=8) [9]. Eingeladen waren Frauen mit niedrigem/mittlerem Sozialstatus und keiner oder kurzer Stilldauer. Zusätzlich fanden 16 Telefoninterviews und eine digitale Gruppendiskussion (n=3) statt, um Ergebnisse aus Vergleichsgruppen zu haben. Die Hauptunterscheidungsmerkmale zwischen der Ziel- und Vergleichsgruppe waren der Sozialstatus (niedrig/mittel vs. hoch, gemessen an Bildung und Einkommen) und die Stilldauer (max. 4 Monate oder gar nicht vs. mehr als 4 Monate ausschließlich).
Stillen ist ein sehr emotionales und sensibles Thema
Mütter in belasteten Lebenslagen äußerten in den Gesprächen zwar einvernehmlich die Auffassung, dass Stillen die gesündeste Form der Säuglingsernährung ist. Allerdings sind ihre Stillerfahrungen eher negativ geprägt und mit Stress, Belastung und Selbstaufgabe assoziiert. Eine Stillvorbereitung – weder allein noch mit professioneller Unterstützung – hat kaum stattgefunden. Mediale – aber auch reale – Vorbilder sind selten, ebenso wie Ratgeber*innen und Unterstützer*innen im sozialen Umfeld. Objektive Vorteile des Stillens werden vielfach als unzutreffend zurückgewiesen. Das gilt vor allem für das Argument, dass Stillen einen positiven Einfluss auf die Bindung zwischen Mutter und Kind hat. Die Frauen nehmen häufig wahr, dass ein starker gesellschaftlicher Druck besteht zu stillen, Stillen in der Öffentlichkeit jedoch nicht erwünscht ist. Sie wünschen sich in erster Linie, dass ihre Entscheidung für oder gegen das Stillen akzeptiert und wertgeschätzt wird.
Die Vergleichsgruppen verfügen im Allgemeinen über mehr Unterstützung aus ihrem sozialen Umfeld und durch Fachkräfte. Sie sind tendenziell offener für Informationen und äußern sich souveräner im Umgang mit Stillschwierigkeiten oder dem öffentlichen Stillen. Insbesondere Frauen mit längerer Stilldauer äußern eine starke Überzeugung und eine ausgeprägte Stillabsicht, die sich auch in der intensiven Stillvorbereitung (auch ohne externe Unterstützung) zeigt.
Stillförderung muss auch auf Verhältnisebene ansetzen
Familien in belasteten Lebenslagen weisen einen hohen Unterstützungsbedarf auf – Unterstützungsangebote nehmen sie allerdings deutlich seltener wahr als ressourcenstärkere Familien. Somit ist es unabdingbar, dass Frauen in belasteten Lebenslagen bereits in der Schwangerschaft eine individuelle Stillberatung und -begleitung erhalten sollten [10]. Die Angebote sollten niedrigschwellig, unbürokratisch und direkt vor Ort angesiedelt sein. Sie sollten miteinander vernetzt und auf die spezifischen Bedarfe dieser besonderen Zielgruppe zugeschnitten sein [11,12]. Ein „one size fits all“-Ansatz scheint hierbei nicht erfolgsversprechend. Um widersprüchliche Aussagen verschiedener Fachakteur*innen und damit einhergehende Irritationen und Verunsicherung bei den Eltern zu vermeiden, ist eine adäquate Qualifikation der Fachkräfte unabdingbar. Sie sollte auf Basis der aktuellsten wissenschaftlichen Erkenntnisse erfolgen und neben Fachinhalten auch Gesprächskompetenzen (Motivational Interviewing u. a.) beinhalten [12-14].
Da eine Stillabsicht schon sehr früh geprägt wird – stellenweise schon deutlich früher als in der Schwangerschaft – sollte auch das Thema Stillen im gesamten Lebenslauf präsent(er) sein. International wird argumentiert, dass für eine erfolgreiche Stillförderung auch die gesellschaftlichen Normen zu adressieren sind. Denn diese haben einen stärkeren Einfluss auf die Haltung gegenüber dem Stillen als eine reine Wissensvermittlung [15-18]. Unter gesellschaftlichen Normen sind zum Beispiel die Akzeptanz von öffentlichem Stillen zu verstehen. Da sich Einstellungen, Normen und Werte insbesondere in der Jugend herausbilden, sollten die Themen Säuglingsernährung und Stillen bereits früh, z. B. im Schulkontext, thematisiert werden [19,20]. Förderlich in jeglicher Hinsicht ist auch ein verstärktes – insbesondere mediales – Sichtbarmachen von Stillenden, auch von öffentlich Stillenden [19,21,22].
Für die Beratungspraxis steht ein Leitfaden zur stigmasensiblen Kommunikation rund um das Stillen zur Verfügung, der hier kostenlos erhältlich ist: www.ble-medienservice.de (Bestell-Nr. 0226)
Insgesamt ist ein stigmasensibler Umgang mit dem Stillen anzustreben [12]. Die befragten Mütter wünschen sich mehr Akzeptanz für ihre Ernährungsentscheidung. Die Haltung von begleitenden und beratenden Fachakteur*innen aber auch der Gesellschaft als Ganzes ist hierbei entscheidend. Frauen in belasteten Lebenslagen haben die Sorge, von oben herab behandelt zu werden. Hier unterstützen Fachkräfte durch eine wertschätzende und respektvolle Haltung und indem sie sensibel gegenüber den Bedarfen und Bedürfnissen der Familien sind. Damit können sie deren Wunsch, gute Eltern sein zu wollen, anerkennen und sie darin bestärken [11,14,23].
Fazit für die Praxis
Mütter in belasteten Lebenslagen empfinden im Zusammenhang mit dem Stillen einen sehr starken Erwartungs- und damit auch Rechtfertigungsdruck, der sich bis hin zu einer rigorosen Ablehnung von Argumenten äußert. Darüber hinaus wird ein geringes Vertrauen in Experten*innen, v. a. aus dem medizinischen Bereich, sichtbar, das ebenfalls dazu führt, Vorteile des Stillens für unglaubwürdig zu erklären.
Gleichzeitig ist die Phase der Familiengründung aber auch durch eine Offenheit für Veränderung geprägt. Der Wunsch, dem Kind einen gesunden Start ins Leben zu ermöglichen und gute Eltern sein zu wollen, ist unabhängig vom Sozialstatus.
Auf der Basis der hier vorgestellten Untersuchung kann für die Fachkräfte, die mit jungen Familien in Kontakt stehen, das folgende Fazit für die Praxis gezogen werden:
- Für Frauen in belasteten Lebenssituationen ist Stillen mit einem starken gesellschaftlichen Druck und Stress verbunden – es wird häufig von negativen Stillerfahrungen berichtet, eine Stillvorbereitung hat kaum stattgefunden, Vorbilder und Unterstützer*innen sind rar.
- Familien in belasteten Lebenssituationen sollten so früh wie möglich eine niedrigschwellige, unbürokratische, vor Ort angesiedelte und auf ihre spezifischen Bedarfe und Bedürfnisse ausgerichtete Stillberatung und -begleitung erhalten. Es gibt hier eine Vielzahl an Angeboten, an die Ärzt*innen oder Fachkräfte ohne spezifisches Stillwissen verweisen können (siehe Auflistung im Infokasten). Die Kosten für die reguläre Hebammenbetreuung inklusive Unterstützung beim Stillen trägt bei gesetzlich Versicherten die Krankenkasse. Für einige andere Angebote entstehen Kosten.
- Eine wertschätzende und respektvolle Haltung der Fachakteur*innen ist in jeglicher Hinsicht förderlich für den Zugang zu und die Ansprache von Familien in belasteten Lebenslagen.
Die hier vorgestellten Ergebnisse können im Detail hier nachgelesen werden: Reiss K, Eiser S, Lücke S, Flothkötter M. Stillförderung bei Müttern in belasteten Lebenslagen – Ergebnisse einer qualitativen Zielgruppenanalyse. Präv Gesundheitsf (2022). https://doi.org/10.1007/s11553-022-00977-7